Print 
Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Place and Date of Creation
Page
721
Turn right 90°Turn left 90°
  
  
  
  
  
 
Download single image
 
  

Nietzsches Wirken.

721

Universität in Verruf gethan werde. Die zweiteUnzeitgemäße"(Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben " 1874)machte den ersten großen Kritiker auf ihn aufmerksam, KarlHillebrand, der aber doch immer noch dasParadoxale " zu stark,das Positive viel zu wenig betonte. In weitere Kreise drangwohl erst dieMorgenröte" (1881), aber erstJenseits von Gutund Böse " (1886) machte Nietzsche berühmt und stellte ihn indie Mitte allseitiger Diskussion. Nach der Erkrankung drang endlichsein Name nach Frankreich und England , wo jetzt auch Über-setzungen und (wenigstens in seinem geistigen zweiten VaterlandeFrankreich ) gute Gesamtdarstellungen seine Gedanken verbreiten.Gegenwärtig ist er eine Macht, mit der zu rechnen jedem selbst-verständlich ist, der allgemeinere geistige Probleme in Angriff nimmt.In philosophischen Fachkreisen giebt man sich zuweilen noch dasAnsehen, als nehme man denDilettanten " nicht voll; aber dasging Schopenhauer nicht anders. Wir können hier auf die großeLitteratur über Nietzsche nur verweisen und haben ohne Polemiknnd ohne Einzeluntersuchungcn die Grundtendenz seiner Werke undihr Verhältnis zu Zeit und Ewigkeit knapp darzulegen. Von derFrage, wie weit eine eigentliche Entwickelung in seinen Arbeitenvorliegt, müssen wir ganz absehen. Uns scheint, daß das Wesent-liche allerdings schon sehr früh präsormiert war und daß die Grund-zügc von Nietzsches Philosophie sich im ganzen gleich blieben, soviel auch im einzelnen sich unigestaltete. In mehr mythologisch ver-hüllter als eigentlich dogmatischer Form hat Nietzsche selbst deuHauptinhalt seiner Lehren in den vier Zarathustra-Büchern (18831891) vorgetragen; daneben sind für das Verständnis seinerGedankenwelt noch in erster Linie wichtigGeburt der Tragödie",Morgenröte",Jenseits von Gut und Böse",Götzendämmerung ".Wer sich in Nietzsche erst einlösen will, thut gut, mit den leichterenSchriftenFröhliche Wissenschaft" undZur Genealogie der Mo-ral" zu beginnen und davon sofort zumZarathustra " überzugehen.Zu warnen ist vor der massenhaften Makulatur populärer Er-läuterungsschriften. Unsere eigene Darstellung giebt sich nur alsanspruchslosen Versuch; die gründliche Durcharbeitung desProb-lems Nietzsche" gehört nicht in eine Litteraturgeschichte und kannüberhaupt nirgends so nebenbei gegeben werden.

Jeder große Geist ist Positiv. Wie bei Luther, bei Lessing , beiFeuerbach hat man auch bei Nietzsche zu oft das Positive über dem

Mcycr, Litteratur. 46