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1870—1880,
Negativen übersehen. Aber sicherlich legte Nietzsche selbst seine Erst-lingsschrift richtig aus, wenn er vor die neue Auslage schrieb: „Ausdieser Schrift redet eine ungeheure Hoffnung..." Auf die höchsteKunst der Lebensbejahung, auf ein Zuviel von Leben ist seine Fahrtgerichtet, und nur Mittel zum Ziel ist, was ihm als schonungsloseVernichtung der Hindernisse für eine Höherzüchtung der Menschheitunvermeidlich scheint. Hierin liegt sein positives, höchst positivesIdeal. Im allgemeinsten läßt es sich wohl in jenes Wort „Über-mensch" fassen, das er von Goethe übernahm, um es mit ganzneuem Sinn zu füllen. Bloß darf man sich in der Auffassungdieses Begriffes nicht durch gewisse Paradoxien und gewisse Symbolebeirren lassen; und noch weniger durch die Analogien bei älterenDenkern. Was Nietzsche unter dem Übermenschen versteht, ist mitdem höheren Menschen Jordans und Daumers, dem FreienMax Stirners , dem „modernen Europäer" Dührings unzweifelhaftverwandt; aber es steht um mehr als eine Entwickelungsstufe überall diesen Konzeptionen. Von Jordan und Dühring wie vonRenan und so vielen andern hat er gelernt auch für diesen Begriff;aber Nietzsche war ein Geist, der nicht lernen konnte, ohne fortzu-führen, zu heben.
Eins ist vor allem wichtig, was Nietzsche von Stirner scheidet.Für Nietzsche ist der „Übermensch" ein Typus — nicht ein Einzelner,ein Einziger. Nicht ich oder du sollen Freie, Übermenschen heißen— kaum er selbst, der den Übermenschen brachte; sondern eine Zeitsoll kommen, in der wir alle „den Menschen überwunden haben".Nur zur Heranbildung dieser dionysischen Zeit begehrt Nietzschejene Herrschaft der Wenigen, der Einzelnen, jene Theokratie desGeistes, die für Renan (wie einst für Platon) das dauernde Idealwar. Wohl gab es Zeiten, in denen er zweifelte, ob den Vielzu-vielen jemals der Eintritt in jenes neue Reich des Geistes gelingenkönnte. Im ganzen beherrschte ihn doch die Analogie des Hellenen-tums, das ihm als ein Volk von Übermenschen erschien, nnd derGlaube an die Macht allgemein entwickelnder Kräfte so stark, daßer an eine allgemeine Höherzüchtung der ganzen Menschheit glaubte.
Die Nenheit, die Nietzsche dem uralten Gedanken von besseren,künftigen Tagen gab, stammt aus dem Tiefsten und Größten,was er besaß: aus der ungeheuren Intensität des Erlebens.Ist dies eins der wichtigsten Kennzeichen des Künstlers — unddarüber kann schwerlich Zweifel herrschen — so wird man nicht