„Der Übermensch"
723
zögern dürfen, Friedrich Nietzsche in die Reihe der größten Künstler-naturen zu stellen, die die Welt gesehen hat. In dieser ungeheurenHeftigkeit des Erlebens, in dieser genial gesteigerten Kraft, jede Em-pfindung und jeden Gedanken wie ein Ereignis auszukosten, lagfreilich auch die Tragik seines Lebens begründet. Er hat sie mitBewußtsein stolz getragen, weil er wußte, was damit erkauft war.
Jenem Begriff des „Übermenschen" hat Nietzsche einen ganzneuen Inhalt gegeben. Zunächst erfaßte er ihn so vielseitig, wiekein Vorgänger. Jordan und Dühring denken nur an eine Steige-rung der Leistungsfähigkeit des Menschen: seine körperliche und in-tellektuelle „Höherzüchtung" soll ihn zu Thaten befähigen, wie siejetzt ein Einzelner noch nicht vollbringen kann; nud nur iudiesem Triumph seiner Kräfte soll er ein gesteigertes Glücksgefühlempfinden. Im Gegensatz dazn hatten die Frommen ihren Über-menschen jederzeit als zu höherer Genußfähigkeit organisiert gedacht;Lavater etwa iu seinen „Aussichten in die Ewigkeit" malt sich inmerkwürdig realistischer Weise aus, wie im Jenseits die Sinne, alle,auch selbst der des Geruchs, so verfeinert und verschärft sein werden,daß wir sehend, hörend, mit allen Organen wahrnehmend uner-hörter Seelengenüsse fähig werden. Etwas von dieser romantischenPhantasie ist in Nietzsches Bild des Übermenschen; aber organischvereint sich damit die andere Vorstellung von dem körperlich undintellektuell vervollkommneten Thatmenschen. Unerhörter Leistungenund unerhörter Seligkeiten soll der Übermensch fähig sein. Aberseine Thaten geschehen nicht mehr um äußerlicher Zwecke willen,sondern aus innerem Drang, aus einer Notwendigkeit, deren Er-füllung Selbstzweck ist. Mit andern Worten: That nnd Genuß,Gedanke und Handlung — alles wird empfunden als intensivesAuskosten des Lebens. Das Leben selbst wird zum großen Problemgemacht. Uralt war die Forderung, daß man das Leben zumKunstwerk gestalten solle. Aber sie ist dem Modernen noch viel zuteleologisch. Jeder einzelne Moment hat sein volles Recht. DasLeben soll ein Kunstwerk werden, gewiß — nicht aber so, daß esin einem bestimmten Augenblick „fertig" ist. „Zweck seiu selbst istein jedes Geschöpf", rief Goethe den Teleologen entgegen; Zweckihrer selbst ist eine jede Phase der Entwickelung, lehrt Nietzsche .Gerade dadurch wird das Leben zum Kunstwerk, daß es jeden Augen-blick anders, jeden Augenblick aber voll, in saftiger Rundung ganzund harmonisch ausgestaltet dasteht; denu nur so ist der Einzelne
46*