Nervosität der Zeit. 7 51
die englisch -amerikanische Wahnvorstellung von Lord Bacons Autor-schaft der Stücke Shakespeares griff nach Deutschland über. Inder germanischen Mythologie war plötzlich alles gelehrtem christ-lichem Einfluß zuzuschreiben, was bis dahin als specifisch germanischund heidnisch gegolten hatte; und in der Geschichtschreibung ver-blüffte man sich durch neue Hypothesen über Napoleons Jugendnnd Friedrichs des Großen Politik. Auch das kam erst in denletzten Jahren auf die Höhe; aber eben in jenem nervösen Jahrzehntbildete sich die Neigung, dem Neuen mehr als dem Soliden Glaubenzu schenken, jene Mode der kleinen Morgenröten und Götzen-dämmerungen aus, auf deren Boden dann wissenschaftliche Aben-teurer mit und ohne gelehrtes Gepäck ihr Wesen treiben konnten.
Man war nervös; man war überreizt. Man war das Altesatt, und das Neue war noch nicht schmackhaft. Aber man warbei aller scheinbaren Blasiertheit voll von Hoffnung, voll vonGlauben. Man erwartete überall, wie Nora in Ibsens Drama,„das Wnnder", das Unerhörte. Man wollte es sehen und sah esdeshalb, wie der Pfarrer in Björnsons „Über unsere Kraft" auch da^wo nur recht Menschliches vorlag. Das ist in der Welt nicht an-ders. „Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind." Dies ner-vöse Jahrzehnt brachte den Glauben zur Reife; das nächste solltedas Wunder bringen.
Stärker als seit lange ließ sich die deutsche Litteratur indieser Epoche von fremden Vorbildern mitbestimmen, wie das beiihrem suchenden, erwartenden Charakter natürlich war. Der gewaltigeEinfluß Zolas war schon im Abnehmen; dafür begannen die fran-zösischen Symbolisten Baudelaire , Verlaiue, Mallarms an jüngerendeutschen Autoren Verehrer und Schüler zu finden. Wenn dieNaturalisten um Zola (nach der Terminologie Goethes) in der„einfachen Nachahmung der Natur" befangen blieben, steckten dieSymbolisten fast durchweg in der „Manier"; den „Stil" hattenbeide Schulen noch nicht gefunden. Das Individuelle überschätztendie Franzosen jetzt durchweg: die Naturalisten überschätzten es imObjekt, die Symbolisten im Subjekt.
Der neuen Kunst, dem neuen „Stil" kam man im Nordenerheblich näher. Dostojewski war noch ganz Naturalist, Turgenjew vielfach Manierist gewesen; Tolstoi (geb. 1828) erhob sich in„Krieg und Frieden" (1865) und „Anna Karenina " (1874—1876)zu einem neueu epischen Stil. Hier war zumal in „Krieg und