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zösischen Kritiker, Lemaitres vor allem, des ironischen NovellistenBarres Bewunderer, der Nachahmer der kleinen epigrammatischenGeschichten Maupassants („Caph" 1894), wendet sich jetzt ganz dereinheimischen Tradition des Volksstücks zu („Aus der Vorstadt"mit Karlweis, 1893; „Das Tschaperl" 1398). — Innerhalb diesesweiten Umkreises, den seine Tendenzen beschrieben, ist Bahr dochinnerlich immer derselbe geblieben: ein Virtuos des Nachempfindens,ein Meister entzückender kleiner Stilkünste, und trotz diesen schein-bar mit Größe unverträglichen Talenten ein Temperament vollleidenschaftlicher Sehnsucht nach neuen Schönheiten. Er hat sichimmer verwandelt — ja, wie Buddha, um sich zu erlösen; er istin immer neue Gestaltungen aufgegangen, um schließlich in einerhöchsten selig untergehen zu dürfen. Wie Brentano ist der schöneliebenswürdige Mann mit der unmodernen Künstlerlocke in derStirn mehr „Gedicht" als „Dichter ": er ist eine formgewandte Elegiemit witzigen eingelegten Pointen, ein immer von neuem überraschen-des Gedicht von Heine.
Natürlich fehlt bei so viel liebevoller, aufopfernder Hingabean den unbekannten Gott auch das Widerspiel nicht: der wohlfeileHohn und das bequeme Schimpfen auf „Phantasten" und „Quer-köpfe". Die dankbare Aufgabe des „großen Verleugners", wieIbsen sagen würde, übernahm Max Nordau (geb. 1849) ausBudapest. Dieser fingerfertige Journalist trat zuerst als Moral-prediger auf („Paradoxe ", „Die konventionellen Lügen der Kultur-menschheit" 1883—1896 in 16 Auflagen) und wies auf gewisseSchwächen des gegenwärtigen Lebens nicht ohne Kraft und Geschickhin; wenn es auch nicht gerade nötig war, daß er in dem Vor-worte seine Gedanken mit denen Christi zusammenstellte. Abermanches, was fälschlich gerühmt worden war, deckten die Bücherdoch in seiner Blöße auf; und man konnte damals hoffen, Nordau werde sich selbst jenen Tapferen zugesellen, die die Entrüstung überdie Gegenwart zu Baumeistern einer besseren Zeit erzog. Stattdessen that er sich nur in einem dicken Buch „Entartung" (1893)wiederholt als Arzt der Zeit auf. Er machte es sich leicht: wasseinem mäßigen „gesunden Menschenverstand" nicht gefiel, das er-klärte er schlankweg für verrückt und für das blödsinnige Mach-werk eines „vertierten Idioten":
Ist eS erst noch nötig, die gänzliche Unvernünftigkeit der SittenlehreTolstois zu beweisen? Sie leuchtet dem gesunden Menschenverstand ohne