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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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18801890.

sich diese gedrückte Bevölkerung nicht zu einem Führer auf, dergleichsam ihr Haupt, ihr Wille würde. Luther ist nicht die Refor-mation zu ihr gehören auch Melanchthon und Friedrich derWeise und Hütten und Sickingen und andere noch, der Gelehrte,der Landesfürst, der Politiker und andere Typen; aber Luther istder verkörperte Wille zur Reformation. Einen solchen Führer aussich hervorzubringen, ist diese kranke Gemeinschaft der blinden undhalbverhungerten, verzagten uud vergrämten Weber nicht im stände.Die historische Wahrheit und der Standpunkt des Dichters treffenzusammen. Die unreifen Rotteuhäupter des traurigen Weberaus-standes von 1844 den Hauptmann aus den Erzählungen seinesVaters längst kannte und für den er ein kürzlich erschienenesGeschichtswerk eingehend und zum Teil mit genauem Anschlußbenutzte waren noch nicht einmal so sehr wie Florian Geyer Repräsentanten des Volkes. Sie sind gleichsam nur die letzten,wilden Zuckungen des verzweifelten Weberstandes, derein Aus-atmen" als letzte Lebensnotwendigkeit sühlt und doch den einenAugenblick der Befreiung so wenig ertragen kann, wie der aus-gehungerte arme Weber den endlich ihm zugelaufenen Bissen Fleisch.

So ist das Drama freilich fast nur Zustandsschilderung.Wie in Heines düsterem Gedicht, das der gleiche Aufstand hervor-rief, sehen wir die Weber am Webstuhl, hören sie flnchen, denKönig verwünschen, die letzte Hoffnung aufgeben, und immer kehrt derverzweifelte Refrain wieder:Wir weben, wir weben!" Der Aufstandselbst ist weniger eine That als ein Symptom: so weit ist es mitdiesen frömmsten, demütigsten, hoffnungslosesten Arbeitern gekommen,daß sie vor der letzten Unternehmung der Verzweiflung nicht scheuen.Aber es führt zu nichts; das Elend bleibt. Den Zustand und dieCharaktere, die er hervorbringt, will der Dichter vorführen; wasliegt ihm an einem Abschluß! Der Abschluß ist eben ein Refrain.

Zu der Zustaudsschilderung gehört auch das Bild derer, dieden Zustand herbeiführen oder dauern lassen: Fabrikanten, Beamte,Geistliche, Bürger und Bauern. Niemand wird die schroffe Einseitig-keit der Zeichnung hier leugnen dürfen. Hauptmann steht auf feitender Armen und Bedrückten, er zeichnet die Familie Dreißiger ohnejede Sympathie, wie deren Urbild sie hießen in WirklichkeitZwanziger" ihm geschildert war. Typisch sind sie gemeint, sogut wie der Fabrikant in KretzersMeister Timpe": ein Typns desherzlosen, nicht boshaften, aber das Elend der andern als selbst-