„Florian Geycr"
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Berlichingen aus Goethes Idealfigur zu einem kleinen Krakehlergemacht — nicht aus Trotz, sondern aus Wahrheitsfanatismus.Das ist nur in Ordnung, daß diese Führer alle, wie die desWeberaufstandes, „schlechte Hirten" sind, die ihre Herde nur schnellerden Wölfen in den Rachen jagen. Aber der eigentliche Held selbst,dies unglückselige, von Adel und Pfaffheit so kläglich in Grund undBoden verwüstete Bauerntum ist kein dramatischer Held. DieZnstandsschilderung, die Krankengeschichte wird durch den schwer-fülligen Apparat ermüdend; der starke Hauch menschlichen Mit-gefühls, den wir für den besten je von dem brutalen Egoismusseiner natürlichen Beschützer vernichteten Bauernstand der Weltempfinden, und der starke Haß gegen diese rohen, feigen und hoch-mütigen Junker kann doch solche Unmenge von Stoff nicht genügendbeleben. Ein paar höchst wirksame Momente wie im Vorspiel dasMesserstoßen oder Tellermanns Tod, ja selbst der wirklich groß-artig geschilderte Untergang des zu Tode gehetzten Feldhauptmannsstechen gegen die monotone Umgebung zu stark ab; gar die romantischeMarei, Käthchen von Heilbronn in realistischer Beleuchtung, wirktwie ein absichtlich poetisierender Effekt mehr verletzend als hebend.
Wir können also das Publikum nicht schelten, das dies Dramaablehnte trotz aller Kraft der Charakterschilderung, der Verinner-lichung und Vergegenwärtigung. Dennoch schreiben wir derTragödie eine große Bedeutung zu. Auf dem Weg zu dem großenhistorischen Volksdrama neuen Stils war diese Etappe unvermeid-lich: die fast naturalistische reine Reproduktion. Sie ist in den„Webern " noch nicht vorhanden: hier wählt der Dichter Repräsen-tanten und typische Züge aus — und darin besteht ihr dramatischerVorzug; im „Florian Geyer " versucht er es, die „Totalität desZustandes" (wie Goethe sagt) in ihrem vollen Sinne auf die Bühnezu schleppen. Diese ungeheuere Kraftprobe hat als solche Wert.Sie ist als Kraftprobe gelungen; aber es ist wieder mehr Gym-nastik als Kunst.
Gleichwohl — es ist nun bewiesen, wie viel der Realismusvermag. Der „Florian Geyer " kann ein für allemal als Antwortauf die Frage dienen: läßt sich überhaupt ein ganzes großesStück Wirklichkeit annähernd unverändert auf die Bühne bringen?Ja, können wir jetzt antworten. Aber man soll nun das Experi-ment nicht wiederholen und sich dem Verlangen der Kunst nachübersichtlichen Linien, nach Vereinfachung nicht länger verschließen.