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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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Fuhrmann Henschcl"

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andern Dramen geben nur die Krankheit dies auch die Er-krankung, Als ein kräftiger, frischer, mit sich und der Welt zu-friedener Mann aus dem Volk tritt Henschel uns zuerst entgegen.Aber er ist nur einfachen normalen Verhältnissen gewachsen. DasSchicksal verstrickt ihn in schwere Sorge. Daß er der ersten Frauzugeschworen, die nicht zu heiraten, die dann doch ihre Nachfolgerinwird das ist nur äußerlich sein Verhängnis; die Tragik selbstliegt darin, daß die arme kranke Frau recht hatte mit ihrem In-stinkt. Die brutale, kräftige Person, die ihr folgt, paßt zu demgewissenhaften, gutmütigen Mann so wenig wie die zweite Frau desBahnwärters Thiel zu dieser ähnlichen Natur- wie sie das Kindmißhandelt, das ist beidemal ganz Jbsenisch die typischeOffenbarung ihrer lieblosen Härte. Der Mann, der sich über dieWarnung der ersten Frau hat wegüberredeu lassen, geht an derSeite der sinnlich-begehrlichen, herrschsüchtigen, gemeinen Frau zuGrunde. Seine Begriffe verwirren sich; er versteht die Welt nichtmehr. Er weiß das Netz nicht zn entwirren, das sie ihm über denKopf geworfen: so springt er aus dem Leben, wie Helene, wie Jo-hannes Vockerat, wie Hannele; auch Florian Geyer begeht eigent-lich einen Selbstmord, als er auf das Schloß seines Schwagers flieht.

Trotz diesem Fortschritt in rein dramatischer Hinsicht dennEntwickelung fordert das Drama, wenn es anch äußere Handlungentbehren kann ist die Zustandsschilderung noch immer ausführ-lich, oft, z. B. in der Vorführung der widerwärtigen Nestaura-teurfamilie, breiter, als die Ökonomie des Stückes irgend fordert.Eine dumpfe drückende Luft lastet über dem ganzen Stück und läßtkaum atmen. Neben dem Unheil, das wir vor Augen sehen, kündigtsich kommendes an: die Wirtsfamilie wird immer tiefer herab-kommen, das gefallsüchtige Mädchen in sein Elend rennen. . Wirfühlen uns bedrückt, bedrängt und haben die Empfindung, wiehoffnungslos auch ein Einzelschicksal sein möge - diese lichtloseGesamtschilderung könne nicht getreu sein. Hat der Dichter absicht-lich sich von dem Überschwang idealistischer Töne asketisch heilenwollen? ist eine dnmpfe Stimmung über ihn gekommen? Wirwissen es nicht; aber wie nach demCrampton" hoffen wir aufeine neue Erhebung.

Wir haben Hauptmanns dichterische Laufbahn nicht als einununterbrochenes Austeigen schildern können; aber wir sind weitdavon entfernt, zu glauben, daß er seinen Höhepunkt schon über-