Volkstheater . — Joseph Rucderer. 995
jung" illustriert packend die naive Gesinnungslosigkeit des kleinen„Gesinnungsphilisters". In den „Wallfahrer-, Maler- und Mörder-geschichten" (1899) wird dann schließlich die „sittliche Weltordnung"mit Voltairiauischem Spott an dem lebenslangen Duell zwischenHenker und Raubmörder entwickelt. Neben verbittertem Ingrimmsteht grotesker Humor im Stil der Künstlerkneipen, auch dieser seltenohne satirische Spitzen gegen den guten Philister. — Die Ver-achtung des herrschenden Alltags und vor allem des modernenMannes als seiner Verkörperung bildet das Hauptthema auch sürdie unglückliche Juliane Dery (1864—1899), die den Ernst ihrerLeidenschaftlichkeit durch einen Selbstmord aus Liebe besiegelte. Wosie ihm in romantischer Schilderung Ausdruck gab („Die selige Insel"1897), kam sie über ein unklares Stammeln reminiscenzenreicherVerse, zu typographischen Figuren geordnet, nicht heraus; aber wosie ihrer Satire die Zügel schießen ließ, wie in dem grimmigübermütigen „Volksstück in sechs Bildern", „Die Schand'" (1894),da zeigt die in ihren Novellen („Hoch oben" 1890, „OhneFührer" 1891) merkwürdig sichere, aber triviale Verfasserin eineerstaunliche Originalität in der Beherrschung der Psychologie —der Psychologie der Menschen wie der Verhältnisse.
Befremdet es auf den ersten Blick, die Satire unter den weib-lichen Schriftstellerinnen stark vertreten zu finden, so ist es da-gegen nur begreiflich, daß sie auf dem Gebiete des Romans und derNovelle nach wie vor die Haupttruppe bilden. Im letzten Jahrzehntist auf dem epischen Gebiet neben Ruederer nur ein stärkeresTalent in dieser Gattung hervorgetreten, das dem männlichen Ge-schlecht angehört: Walter Siegfried (geb. 1858 in Zofingen ).Der junge Schweizer setzte mit seinem Erstling „Tino Moralt",„Kampfund Ende eines Künstlers" (1890) einen Kenner wie ErichSchmidt in Erstaunen; er hat freilich anch die Bedeutung diesesglänzenden Erstlings noch nicht wieder erreicht. Es ist ein Künstler-romau, wie sie der neue Schönheitskultus und Philisterhaß unsererTage ii? so großer Zahl gezeitigt hat. Aber dies ist einer von ganzeigenartiger Auffassung.
Zwei große Werke habeu bei dieser an sich und symptomatischgleich interessanten Schöpfung Pate gestanden: Zola mit seinemKünstlerroman „I/ozuvre" und Gottfried Keller mit seiner Auto-biographie, dem „Grünen Heinrich ". Siegfried schreibt hier dieTragödie der erlöschenden Künstlerkraft. Darin hat er zwei hervor-