Walter Siegfried.
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Jahrzehnt außer Theodor Fontane nur zwei Frauen: Helene Böhlanmit dem „Rangierbahnhof", Ricarda Huch mit „Lndolf Ursleu".
Ein reiches Talent trat Ricarda Huch (geb. 1864 aus einerBraunschweiger Faniilie in Porto Alegre ) unter die vielen kleinenBegabungen unserer Tage. Ihr fast allein schien eins gegeben, wasden Genius zu charakterisieren pflegt: verschwenderischer Reichtum.In der Epoche ängstlicher Konzentration kleiner Anlagen, sorgfältigenAnssparens — oder leichtsinnigen Schuldenmachens erschien sie mitder lächelnden Leichtigkeit ihrer Erfindung wie ein Geist aus andererZeit, aus jener Zeit, der sie sich in dem geistreichen Buch „Blüte-zeit der Romantik" (1899) verwandt zeigt. Auch sie hat gelerntund hat entliehen; die beiden großen Dichter der Schweiz konntenauf die Dichterin, die lange in der Schweiz gelebt hat — zuletztals Dr. xtiil. und Stadtbibliothekarin in Zürich — nicht ohne Ein-fluß bleiben, so wenig wie die Gletscher und die Bergseen. IhreVerse zeigen noch stärkere Abhängigkeit von Conrad FerdinandMeyer als ihre Prosa von Gottfried Keller. So wenig wie WaltherSiegfried konnte sie der Versuchung widerstehen, die barocken kleinenEpisoden des „Shakespeare der Novelle" zuweilen nachzubilden;während es aus ihrem innersten Wesen stammt, wenn sie in seinerWeise lehrhafte Bemerkungen allgemeiner Natur einstießen läßt.Nur — ob das letzte, sicherste Zeichen des Genius vorhanden sei,die Entwicklungsfähigkeit, die Kunst, über sich zu immer höhererVollendung auszureifen, das müssen wir bis heut, so sehr wir eserhoffen, unentschieden lassen.
Während die bildenden Künstler unserer Zeit sich über Tendenzund Technik gern aussprechen, sind die Autoren darüber merkwürdigschweigsam und begünstigen — wie Hofmannsthal , Hauptmann,Helene Böhlau — fast nur indirekte Zeugnisse. Neben denen, dievon Beruf auch Kritiker sind, wie Bahr und Busse, und neben denen,die Dichter eigentlich nicht sind, wie Altenberg und Holz, haben nurStefan George und Ricarda Huch ihre künstlerischen Absichten klarund scharf auseinandergesetzt. Vielfach sind beider Lehren inhalt-lich verwandt. Die Schönheit des wirklichen Lebens — und dieMinderwertigkeit des nur scheinbaren bilden ihre Grundpfeiler; alsden Aufbau der wirklichen, der eigentlichen Existenz in ihrer ganzenKraft und Schönheit fassen beide die Kunst auf.
Wir sind in ein ganz neues Verhältnis zum Leben geraten;der „Bande vom heiligen Leben" gehören wir alle an, die in einer