908 1890—1899.
wundervollen Episode des Romans geschildert wird: erfüllt sind wiralle von sehnsüchtiger Liebe zu den berauschenden Möglichkeiten derExistenz. Wie für die arme Flore Lelallen im „Ursleu", so wirdfür den symbolischen „Thoren" Hofmannsthals der nahe Tod zueiner neuen erregenden Würze des Lebens; so dürstet der einsameHeld in Andrians „Garten der Erkenntnis" nach dem wirklichenLeben; so lehrt Rolmers in „Tino Moralt", die „Zeit" sei für denKünstler ein leerer Begriff, und Geltung habe für ihn nur der vonkünstlerischem Wollen erfüllte Moment; so verachtet Helene Böhlandie armen verspielten Leute, die über kindischem Spielzeug das Lebenversäumen. Und weil wir den unschätzbaren Besitz der Wirklichkeitmit all ihren Schmerzen, ihren Enttäuschungen — und Täuschungenviel tiefer empfinden als frühere Zeiten, die harmlos Raubbautrieben mit der Existenz, als könnten, wie das Sprichwort die un-besonnene Jugend sagen läßt, „zwanzig Jahre und zwanzig Thalernie ein Ende nehmen" — darum verlangen wir nnn auch von derKunst eine ganz nene Intensität. Wir wollen auch hier jedenMoment erfüllt haben mit Eindrücken, Stimmungen; keine leichtenHeckenröschen, schwere gefüllte Centifolien sind die Rosen der modernenKunst. Gegen die leeren und öden Stellen, die man früher umder schönen „Blumen- und Fruchtstücke" willen duldete, die nochHeyse oder Wilbraudt sich gestatten, sind wir unduldsam geworden.
So weit geht diese Schen, dieser uorror vaeui in der Dichtung,daß die Schule der „Blätter für die Kunst" den Roman als Kunst-gattung überhaupt verwirft, weil es gar nicht möglich sei, in einemlängeren Werk ununterbrochen Stimmung festzuhalten. Daß dieseMeinung vom künstlerischen Unwert der Romanform — sehr begreif-lich beim Mißbrauch der Kunstgattung zu allerlei Propagandazwecken— übertrieben ist, beweist aber gerade „Ludolf Ursleu". Getränkt istder Roman in allen Poren von Schönheit, und doch noch schönerals Ganzes. Novalis ' Forderung ist erfüllt, daß der Roman nichtein gleichmäßig fortlausender Strom sein dürfe, sondern ein inallen und jeden Perioden gegliederter Bau. „Jedes kleine Stückmuß etwas Abgeschnittenes, Begrenztes, ein eigenes Ganze sein."In der That ist in technischer Hinsicht an dem Werk nichts mehrzu bewundern, als die unvergleichlich kunstvolle Abgrenzung dereinzelnen Abschnitte. Auch „Tino Moralt" strebt das an, doch ohnees zu erreichen: jeder Abschnitt für sich ein stimmungsvolles Ton-stück, jeder unverrückbar von seinem Platz in der Gesaintharmonie.