Roman nnd.Lhnk in der Gegenwart.
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Ernüchterung und Abkühlung — die oft genug auch schou bis zurNüchternheit und Kälte geht — Platz gemacht und eine gründlichrealistische Litteratur müßte diese Entwickelung viel stärker abspiegeln,als es der Fall ist.
Wir werden aus alledem schließen dürfen, daß im Augenblickjedenfalls der Roman die führende Gattung nicht mehr ist, wiebei den Romantikern und Jungdeutschen. Die führende Gattungist jedesmal die, deren Eigenart am weitesten fortgeschritten ist unddie ebeu deshalb im allgemeinen für die lebenden Talente dengrößten Reiz hat; im allgemeinen, denn natürlich wird eine starkeepische Begabung auch in einer dramatischen oder lyrischen Periodeihr eigentliches Arbeitsfeld nicht verfehlen. Der Roman und selbstauch die Novelle büßen diese Stellung mehr und mehr ein; aberdem Drama, das im vorigen Jahrzehnt unbestritten die leitendeKuustform war, beginnt die Lyrik diesen Rang streitig zu machen.Für den Augenblick — denn all dies wechselt ja, muß und sollwechseln; an eine stehende „höchste Gattung" glauben wir nichtmehr — liegen die stärksten Keime einer großen Zuknnstskunst aufdem Boden der Lyrik.
Lyrische Reize sind es ja auch fast in erster Linie, die in den„Florentiner Novellen", in „Tino Moralt" oder „Ludolf Ursleu"die in Hannele", der „Jugend", der „Liebelei" entzücken; vielfachwirken sie stärker als die rein epischen und dramatischen Vorzügedieser Werke. Das didaktische Element dagegen, das dieser Epochenoch von früher anhaftet, beginnt man vielfach schon als etwasStörendes zn empfinden, eben deshalb, weil es den reinen Stim-mungseindrücken Eintrag thut. Man geht so weit, alles irgend-wie „Gedankenmüßige" ohne weiteres für unpoetisch zu erklaren.Richard Schaukal , ein junger Lyriker der impressionistischenSchule („Meine Gürten. Einsame Verse" — ohne einen solchenmehr oder minder gesuchten Nebentitel geht es nicht mehr! —1897) erklärt in einem Aufsatz „über die Forderung von sogenann-ten Gedanken in der Dichtung", ein dichterisches Produkt, das ein-fachste Lied und die formvollendetste Tragödie, sei nie etwas anderesals „die Antwort eines Dichters auf einen Reiz". So stark über-schätzen die Modernen das anregende Moment! Man will denDichter heute zu einem Instrumente machen, das ans irgend einenReiz — wozu Schaukal allerdings auch Gedanken, Erlebnisse,Wünsche rechnet — gleichsam mechanisch reagiert — das alte ab-