Volksdichter.
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Und ich sah aus Haß und ElendDoch die Göttin Liebe blicken.
Nicht viel besser steht es mit den meisten „Volksdichtern" derGegenwart. Die Originalität des schwäbischen Bauern ChristianWagner oder seine bodenständige Innigkeit wird nirgends erreicht.Wie unsere Dialektdichter der Mehrzahl nach Geistliche, Lehrer,Apotheker, Juristen sind, kurz Männer der gebildeten Berufsarten,die sich in die Sprache des eigentlichen „Volkes" erst mühsam hin-über übersetzen, so sind unsere Volksdichter zumeist strebsame Hand-werker und Kleinbürgerstöchter, die sich in den Ton der Gebildeteneinzusingen suchen. Ludwig Jacobowski hat so in der Analyse derGedichte des Schorndorfer Eisenarbeiters Ludwig Palmer (1896)aufgewiesen, wie die eigentlichen Kosten dieser Poesie fast durchwegvon Schiller, Uhland und einigen anderen „gelehrten" Dichtern be-stritten werden. Literarhistorisch ist das Studium dieser Autoreudeshalb nicht uninteressant: es zeigt, welche Dichter jetzt die ästhetischeBildung der „kleinen Leute" beherrschen; ästhetisch ist die Lektüremeist unerfreulich. Robert Burns , an den zum großen Schadendieser Dilettanten öfters erinnert wird, hatte noch den unschätzbarenVorteil, an die lebendige Volksdichtung Schottlands anknüpfen zukönnen. Heute ist die Tradition des Volksliedes, des echten altenVolksliedes, kaum noch irgendwo lebendig. Wie unsere jetzigeMythologie mit Luther anfängt, so beginnt die Volkspoesie vonheute mit Schiller : erst von da ab leben die Gestalten, die Dich-tungen wirklich im Volke, was vorher liegt, ist fast nnr gelehrtemSuchen zugänglich. Einzig im Kirchenlied reicht die Überlieferungweiter zurück; und gerade dies hat bezeichnenderweise auf all diesogenannten „Volksdichter" viel weniger gewirkt als moderne Ge-dichte und vor allem als — die Zeitung. Die Zeitung ist fürden „kleinen Mann" hente, was Sage und Legende für ihn imMittelalter waren. Man lese nur die Gedichte des talentvollstenunter ihnen, die des Sattlers Gnstav Renner (1896): „DasSchloß im Walde" mit Marmor und Rosen; eine Ballade vonSigruu und Helge; philosophische Grübeleien („Gedanken und Stim-mungen"); es fehlen nicht einmal Sonette. Man darf sich freuen,daß der ganze Gestalten- und Formenreichtum unserer Poesie auchdiesen Kreisen zugänglich wird; aber eine Vermehrung der dichte-rischen Persöulichkeiteu oder ein beträchtlicher Gewinn an echterPoesie ist bis jetzt dadurch uicht erreicht worden.
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