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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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13S018S9.

Doch auch in der Kunstlyrik ist die Übernahme fremder Tönebeträchtlich. Bei so regem Betrieb kann eine gewisse Stilvermischungnicht ausbleiben. Im allgemeinen suchen die jüngsten Lyriker nichtohne Erfolg die Tradition der älteren Dichtung mit neueren An-regungen zu verbinden. Theodor Storm hat auf die meisten ge-wirkt, daneben Heine, jetzt auch schon Busse; weniger Lenau undFreiligrath Goethe merkwürdig wenig, fast weniger noch alsSchiller. Die Anregungen Scheffels sind ganz, die Geibels so gutwie ganz überwunden. Aber auch die Neigungen zum Auflösender Form, wie sie die Impressionisten Pflegen, fehlt bei kaum einemganz: freie Rhythmen, oder doch wenigstens anwachsende Strophen,lose angehängte Einzelverse, metrische Freiheiten zeigen sich vielfach.Nicht weniger verbreitet ist aber ein bewußtes Schwelgen in allerleiHilfen der Stimmung, das an die Art Hofmannsthals erinnert:starke Farbenwirkungen, Klangeffekte von mancherlei Art, symbolischeZüge. Der hervorragendste Vertreter dieses Eklekticismus scheintmir Franz Evers (geb. 1871:Königslieder" 1894;HoheLieder" 1896), der, wie Stefan George , Nietzsche stark auf sichwirken ließ (Sprüche aus der Höhe" 1893) und mit diesem undHofmannsthal die nahen Beziehungen zur bildenden Kunst teilt.

Die nenerwachte Freude an der Lyrik, die Lust am kunstvollenEinkleiden der gesammelten Stimmungen, giebt sich auch äußerlichkund in der Freude an schöner oder doch origineller Buchaus-stattung durchaus kein verächtliches Symptom eines erstarkendenSchönheitsgefühls und Stilbedürfnisses. Bücher von George, vonEvers , von Henckell verraten schon ganz äußerlich durch die eigen-artigen Umschläge, durch Papier und Druck, durch Illustrationen(besonders des imBuchschmuck" eifrig thätigen Fidus) die allgemeineRichtung ihrer Autoren. Natürlich fehlen auch hier nicht Über-treibungen. Aber daß wir von der Misere der banalenhübschenEinbände" und des charakterlosen Drucks loskommen, ist gewiß keinkleiner Nebengewinn aus der neuen Bewegung.

Alles in allem: es steht bei uns in der Lyrik wie aufandern Gebieten. Ein gut Teil überflüssige Überproduktion, mancherungesunde Versuch, viel blasse Doktrin und viel blutroter Fanatis-mus im ganzen aber doch unzweifelhaft eine kräftige, viel ver-sprechende Regsamkeit, Persönlichkeiten, gesundes Messen der Kräfte.Und das ist das Beste; eine wirklich nene Lyrik wird nur einemwirklich sich verjüngenden Volke geschenkt!