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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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Eklekticismus, Kritik,

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Auch die Kritik hat sich verjüngt. Daß sie, wie gewöhnlich,einen Schritt hinter der Produktion zurückbleibt, ist schließlich ihrRecht; der Schwimmeister muß auf festem Boden bleiben, wenn erdie jungen Schwimmer leiten, lehren, retten will. Unsere Kritik,die in der vorigen Generation gerade durch die energische, doktri-näre Einseitigkeit der Hart, der Schlenther und Brahm, dernorddeutschen Kritiker überhaupt eine rühmliche, fördernde Wirkungausgeübt hat, ist jetzt überwiegend imReich" zu dem Impressio-nismus Lemaitres und Hermann Bahrs übergegangen, währendumgekehrt Wiener Kritiker wie Rudolf Lothar (geb. 1865) jetztdazu neigen, ihr Urteil auf Prinzipien zu begründen. Kuustrichterwie Franz Servaes (geb. 1862:Präludien" 1899), Alfred Kerr (geb. 1867) uud Felix Poppenberg (geb. 1869) suchen vor allemden Eindruck, den sie von einem Kunstwerk empfangen haben, mög-lichst genau und vollständig wiederzugeben. Sie stellen sich zu denKunstwerken, wie die impressionistischen Autoren zur Natur: ihreangeborenen Neigungen, ihren Geschmack und ihre persönlichen An-sprüche wollen sie nicht unterdrücken, aber nur als Mittel zurPrüfung der auf sie geübten Wirkungen verwenden.

Durchweg hat sich der Stil der Recensionen gehoben. Früherwaren jene leitenden Kritiker wie Spielhagen, Frenzel, Lindau vonder älteren, Bahr, Hart, Bölsche von der jüngeren Richtung fastdie einzigen, die den guten Traditionen unserer großen Kunstrichter,der Freytag, Kürnberger, Fontane folgten und aus dem Referatein Kunstwerk schufen; in der Masse der Recensenten herrschte dieseit Gutzkow eingerissene Verwahrlosung der Sprache. Jetzt siehtes aus, als würden wir eine Zeit erleben können, wie GeorgBrandes sie einmal in seinem Vaterlande erlebt haben will. Er sagtvon den dänischen jungen Schriftstellern des Geschlechts von 1870:Sie betrachteten es als ihre Aufgabe und Pflicht, die Prosa mit nichtgeringerer Sorgfalt zu behandeln, als ihre Väter und Großväter auf denVers verwendet. Auch keinen Zeitungsartikel mochten sie aus der Handgeben, der nicht in Bezug auf Stimmung oder Anfchcmlichkeit ein Kunst-werk gewesen wäre. Ein altes Sprichwort sagt: Worte haben ihren Wertgleich Münzen. Diese jungen Schriftsteller schieden jedwede Wortmünzeals wertlos aus, deren Gepräge durch den Gebrauch verwischt worden.Man ersetzte gewissenhaft die abstrakten oder philosophischen Ausdrücke, beidenen niemand mehr etwas empfand noch dachte, durch frische Borstellungs-bezeichnungen, welche Bilder hervorriefen, Erinnerungen heraufbeschworen.Man wandte sich mittelst des Auges und des Ohres an den Gedanken undversäumte nicht, die Sinne des Lesers zn unterhalten, sich seines Nerven-