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2 (1914) Im Zeitalter Kaiser Wilhelms des Siegreichen
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V. Die preußische Armeereform von 18K0

ten Mobilmachung von sechs preußischen Armeekorps, aber zu keiner be-stimmten Entscheidung, selbst zu keiner preußischen Drohung am Rhein ,die den Krieg nach Deutschland hätte hinüberziehen können. Erst solltedie französische Armee sich in Italien fest gebunden haben. Nach Monte-bello mäßigte Österreich sein Verlangen; nach der Verstärkung der Armeeam Mincio kam es auf die alten Bedingungen wieder zurück. Preußen behielt freie Hand und ging selbständig vor. Gerade am Schlachttagevon Solferino kündigte es die Absicht der bewaffneten Vermittlung anund befahl die Mobilmachung der gesamten Armee. Österreich sollte inseinem Besitzstand erhalten bleiben, aber Reformen in Italien gewähren.Das war ein gefährliches Beginnen, das den Sieger reizen und den Be-siegten, der auf mehr gehofft hatte, erbittern mußte. Der überraschendeFriedensschluß machte jede Vermittlung glücklicherweise gegenstandslos.

Alle Vorbereitungen aber für ein wirksames Eingreifen mit starkenKräften waren getroffen worden. Sie trugen schon ein ganz anderesGepräge als die tastenden, unsicheren und halben Maßregeln aus derPeriode 18481850. Die Pläne für den kommenden Feldzug ändertensich je nach der politischen Lage. Anfangs schlug der Chef des General-stabes die Aufstellung von drei Armeen vor, eine am unteren Rhein zurVerteidigung unserer Rheinlande, eine, die Hauptarmee, am Main zumspäteren Einmärsche nach Frankreich und eine Reservearmee an der Saale ,die dort Nachdruck verleihen sollte, wo er nötig wurde. Eine kleine Be-obachtungsarmee wurde noch gegen Rußland bereitgehalten. Der fran-zösische Angriff sollte zunächst abgewartet werden. Als man dann zeit-weise an die Möglichkeit einer Teilnahme Hollands und Belgiens amKriege gegen Frankreich dachte, wurden die Entwürfe kühner. Nach derSchlacht von Solferino steigerte sich dies; denn die französische Haupt-macht schien für längere Zeit am Mincio gefesselt zu sein; Verstärkungensetzten sich aus dem Innern Frankreichs dorthin in Bewegung. Nun warfür Moltke der Augenblick gekommen, den sofortigen Einbruch nach Frank-reich in Aussicht zu nehmen, wie es seinem ruhigen aber energischenTemperament entsprach. Vier Armeen sollten ihn gleichzeitig ausführen:eine Rhein-, Mosel-, eine Main - und eine süddeutsche Armee.

Wichtig wurde bei der Bearbeitung dieser anscheinend bevorstehendenFeldzüge, daß der Chef des Generalstabes mehr in den Vordergrund tratund seine Stellung die ihr gebührende Beachtung und Selbständigkeit zugewinnen begann. Ehedem hatte er selbst mit dem Kriegsminister meistnur durch Vermittlung des Allgemeinen Kriegsdepartements verkehrt. Alsjetzt die Lage drohend wurde, wandte sich jener direkt an ihn und es