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2 (1914) Im Zeitalter Kaiser Wilhelms des Siegreichen
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IX. Das Deutsche Reich und seine Wehrmacht

Offizieren, den Ausgangspunkt für die Neuerungsbestrebungen. Die ver-schiedenartigsten Vorschläge, sie zu vermindern, wurden laut. Die Abhilfesuchte man zunächst irrtümlicherweise in Erfindung von Formen, die dergebotenen Vorsicht auf dem Kampfplatze Rechnung tragen sollten. Eineentscheidende Umwandlung trat dennoch nicht ein. Das System der starkenSchützenketten, mit geschlossenen kleinen Unterstützungstrupps hinter sich, undden weiter rückwärts folgenden Kompagniekolonnen oder Linien, blieb auf-recht erhalten. Die erhöhte Wirkung und größere Tragweite der Feuer-waffen wurden durch Vergrößerung der Abstände nach der Tiefe berück-sichtigt. Dazu kamen, schon einige Jahre nach dem Kriege, die Vorschläge,auch die Unterstützungen in aufgelöster Ordnung folgen zu lassen undendlich die geschlossene Ordnung innerhalb der Feuerzone des Feindesgänzlich fallen zu lassen. Der Streit über den Wert oder Unwert dieserErfindungen entbrannte sehr lebhaft, und nicht ohne Grund sprach manvon einem allgemeinen Bemühen um die Kunst, den Feind ohne Blut-vergießen zu schlagen.

Im großen ganzen drückte sich in alledem ein reges Streben nach Tätig-keit und Vervollkommnung aus. Die Armee wollte nicht auf ihren Lor-beeren ruhen, sondern unausgesetzt an der eigenen Tüchtigkeit und Er-höhung ihrer Leistungsfähigkeit arbeiten. Niemand dachte daran, dieMittel, mit denen man die großen Siege im französischen Kriege er-fochten hatte, als die ein für allemal richtigen hinzustellen. Es ist nichtzu leugnen, daß damals eine gewisse Unruhe in die Gefechtsausbildungder Infanterie getragen wurde. Aber sie hat gute Früchte gezeitigt. EineUrsache, welche sie erklärt, war die Aufrechterhaltung des alten Jnfanterie-reglements von 1847, über dessen Unbrauchbarkeit für die Praxis desSchlachtfeldes keine Zweifel mehr bestanden. Das Erscheinen einer neuenVorschrift wurde unmittelbar nach dem Kriege ganz allgemein erwartetblieb aber aus. Kaiser Wilhelm I. mochte das Reglement, an dessen Ent-stehen er selbst beteiligt war, und in dessen Zeichen wir die ruhmvollenKriege durchgeführt hatten, aus Pietät nicht fallen lassen. Es kam wohlzu einem Neudruck, der die bis zum 3. August 1870 ergangenen Ab-änderungen enthielt. Diese aber beruhten lediglich auf den Erfahrungenvon 1866 und verwerteten die Errungenschaften von 1870/71 noch nicht, sodaß das Versuchen mit neuen Formen noch kein Ende nahm. Etwas mehrSicherheit wurde der Infanterie durch eine Kabinettsorder vom 3. Juli1875 gegeben, die das den neu gewonnenen Grundsätzen geradezu bitterHohn Sprechende beseitigte. So fiel die ungelenke Kolonne nach der Mitteals Gefechtsform, für welche sie bis dahin noch gegolten hatte, fort und