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X. Schlußbetrachtung
selbständigen Streiter heranzubilden, ihn durch die Friedenserziehung soauszustatten, daß er sich im Kriege ganz auf sich selbst verlassen kann.So geschieht es auch heute im Heere. Wer das Märchen vom Paradedrillund Kadavergehorsam noch glaubt, der begleite unsere Truppen im Früh-jahr, das die wichtigste Vorbereitungszeit bildet, hinaus auf unsere Übungs-plätze, und er wird sich eines andern belehren. Daß der jetzige Friedens-dienstbetrieb auch Mut, Selbstbeherrschung und Männlichkeit in der Seeledes jungen Soldaten erzeugt, wird niemand leugnen, der die Geschichte vonden Taten unserer Reiter in Südafrika liest, die meist in der Einsamkeitauf sich selbst angewiesen waren. Sie erhalten auch in uns den Glaubenan die Tüchtigkeit der deutschen Jugend aufrecht, was man immer überderen Entartung sagen möge. Ob die gleiche Anspannung wie in derGegenwart fortdauern kann, ob gar noch eine Steigerung möglich seinwird, ist eine schwer zu entscheidende Frage. Versucht muß es werden;denn die moralischen Kräfte sinken, sobald sie nicht mehr nach Erhöhungstreben. Wir stehen im schärfsten Wettkampf mit allen großen Nationender Erde, und es gibt für uns noch immer viel zu lernen, nachzuholenund zu vervollkommnen. Niemals dürfen wir uns, in der gefährlichenFreude darüber: „daß wir es so herrlich weit gebracht haben", der Ruheund falscher Sicherheit hingeben.
Das alte Ideal der Truppe auf dem Schlachtfelde, nämlich die „wieauf dem Paradeplatz mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen" vor-rückende geschlossene Linien, ist geschwunden und wird ersetzt durch dasneue Ideal des aufgelösten Schützenschwarms, in dem jeder Einzelne, dasGewehr in der Faust, trotz Kugelregen und Geländeschwierigkeiten sich un-aufhaltsam vorwärts arbeitet, mit dem festen Vorsatz im Herzen, in diefeindliche Stellung einzudringen, sollte dies auch nur ihm allein beschiedensein. Es erfordert ungleich höhere Eigenschaften als jenes.
Auch die Begriffe in bezug auf die Gesamtanstrengung einer Nationhaben sich völlig umgewandelt. Noch vor wenig Jahren glaubte der beiweitem größte Teil des deutschen Volkes darin schon das äußerste Maßerreicht zu haben. Die Vorgänge von 1912 und 1913 aber belehren unseines Besseren. Als Preußen vor 100 Jahren zur Zeit der höchstenNot an 6°/<> seiner Bevölkerung unter Waffen gerufen hatte, glaubte man,daß ein Mehr unmöglich sei. Erst kürzlich aber erlebten wir es, daßGriechenland und die neu aufstrebenden südslawischen Völker nicht wenigerals 10, 13, ja 15°/g der Gesamtbevölkerung dem Heere zuführten. Zu-gleich änderte sich unsere politische Lage in bedrohlicher Art. So habenwir denn, nach einer erst 1912 vorangegangenen recht ansehnlichen Heeres-