Zustände in der französischen Armee
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die gebildeten und wohlhabenden Klassen der Bevölkerung, dem Offizier-korps die Einheitlichkeit. Dieses bestand teils aus alten Troupiers, die sichvom Unteroffizierstande emporgearbeitet hatten, teils aus jungen übermäßigbevorzugten Zöglingen der Militärschulen, die wieder dem Leben der Truppefern standen. Der Geist der Kameradschaft mangelte; selbst die politischenSpaltungen waren hineingetragen worden. Es kam vor, daß sich Offiziereoffen als Republikaner bekannten. Mißvergnügen auf der einen, Über-hebuug auf der anderen Seite trübten das gegenseitige Verhältnis derOffiziere untereinander. Trotz aller Tapferkeit des einzelnen litt darunterdie Leistungsfähigkeit des Ganzen.
Auch das Verständnis der modernen Kriegführung stand auf keinerhohen Stufe. Die Erinnerung an die Zeit des ersten Kaiserreichs hatteeine Überschätzung der Empirie und der Routine, eine Nichtachtung theo-retischer Kriegsstudien erzeugt, die sich bitter rächen sollte. Dabei wieder-holte sich die merkwürdige Erscheinung, daß die Lehren großer Heerführermeist von ihren Feinden besser verstanden werden als vom eigenen Volke.Napoleons I. Kunst war durch Clausewitz ' klassische Interpretation undMoltkes mit geistiger Freiheit und Selbständigkeit geübte Anwendung dempreußischen Offizierkorps in Fleisch und Blut übergegangen, in Frankreich aber vergessen. Die praktischen Erfahrungen aus dem Kleinkriege inAlgier, den Kolonien und Mexiko , um welche die französische Armee inEuropa so viel beneidet wurde, hatten den Ausfall nicht ersetzt, sonderneher geschadet. Sie boten keine Beispiele für den Krieg im großen undverwöhnten die Truppe durch dauernde Bekämpfung eines minderwertigenGegners. Den Sieg über Preußen dachte man sich allgemein, trotz 1366,noch sehr leicht. Was in der Preußischen Armee Gründlichkeit war, hieltman fälschlich für Schwerfälligkeit, der sich die französische Lebhaftigkeitund Beweglichkeit schnell überlegen zeigen würde. Die warnenden Berichtedes militärischen Beobachters in Berlin , Oberst Stoffel, der GeneraleDucrot, Trochu usw. wurden überhört. Die Täuschung aber fand darinihre Nahrung, daß mehr als die Hälfte der Zeitgenossen die französischeArmee noch immer für überlegen und für die unbestritten erste der Weltansahen.
Die Vorzüge des neuen Chassepotgewehres, die sich bei der Abwehr desitalienischen Freischarenzuges gegen Rom im Gefecht von Mentana am3. November 1867 in glänzendem Lichte gezeigt hatten, bewirkten eineübermäßige Betonung der Vorteile des AbWartens in guten Stellungen.Die Neigung zur Defensive im großen fand einen Grund auch im Mangelan Vorbildung zur freien einheitlichen Bewegung starker Truppenmassen,
Frhr. v. d. Goltz, Kriegsgeschichte II 25