606
IX. Das Deutsche Reich und seine Wehrmacht
ersehnte Reglement. Es räumte mit dem Zwiespalt zwischen Friedens-übungen und Kriegsbrauchbarkeit auf. Es regelte nicht mehr, wie dasalte, den Kampf auf Kommando, sondern lehrte den Kampf nach Zweckund Aufträgen, wie er auch 1866 und 1870, damals jedoch ohne vor-geschrieben zu sein, ausgefochten worden war. Neues Leben kam damit indie Truppe. Sie war nicht mehr genötigt, in dem Augenblick, da sie dasGefechtsfeld betrat, zum großen Teil zu vergessen, was sie im Frieden ge-lernt hatte. Die für den Kampf gegebenen Formen und Lehren eigneten sichohne Änderung für den praktischen Gebrauch. Mit den militärischen Ansichtender Zeit stand das neue Reglement in Einklang, und das Gefecht konnteso geübt werden, wie es dort vorgeschrieben war. Die große Freiheit fürdie Selbständigkeit des einzelnen Führers blieb dabei erhalten. „AlleÜbungen müssen auf den Krieg berechnet sein. Im Kriege verspricht nurEinfaches Erfolg." Dies war sein Leitsatz. Er gab dem ganzen Dienst-betriebe größere Sicherheit. Die Infanterie kam nunmehr aus dem be-denklichen Tasten heraus und trat in bestimmte, ihr vorgezeichnete Bahnenein. „Die Ausbildung der Truppe ist nur dann richtig, wenn sie daskann, was der Krieg erfordert, und wenn sie auf dem Gefechtsfeldenichts von dem wieder abzustreifen hat, was sie auf dem Exerzierplatzerlernte."
Das Wichtigste aber war der seitdem befolgte Grundsatz, daß alle Regle-ments nicht als ein festes und steifes Gesetz zu betrachten seien, sondernals etwas Flüssiges, eine Lehre, die sich mit den Fortschritten der Zeitumbilden müsse, damit sie dauernd auf der Höhe zu bleiben vermöge.Das ist nunmehr den Vorschriften aller Waffen zu eigen. Sie erfuhrenbis zur Gegenwart mehrfach Neuerungen. Sie dürfen nicht nur, sondernsie sollen umgebildet werden und Schritt halten mit den Errungenschaftender Gegenwart. Häufig hat man wohl in unseren Tagen über ihre Kurz-lebigkeit gescherzt, aber diese findet ihren inneren und berechtigten Grundin dem reißenden Fortschritt des öffentlichen Lebens überhaupt, dem siefolgen müssen.
„Des Volkes Sitten, der Zustand seiner geistigen Bildung bestimmenmehr, als man gewöhnlich berücksichtigt, die Form der einzuführendenTaktik." Recht und Pflicht der zeitgemäßen Entwickelung ward sogleichdurch einen kurzen Einführungsbefehl gewährleistet, den der Kaiser demReglement voranschickte: „Es ist untersagt, zur Erzielung gesteigerteräußerlicher Gleichmäßigkeit oder in anderer Absicht mündliche oder schrift-liche Zusätze zu erlassen. Der für die Anwendung des Reglements unddie Ausbildung gelasfene Spielraum darf keine Einschränkung erfahren.