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2 (1914) Im Zeitalter Kaiser Wilhelms des Siegreichen
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IX. Das Deutsche Reich und seine Wehrmacht

standene Überschätzung des Gegners geltend. Die Zahl der chinesischenKräfte wurde auf das Unglaublichste übertrieben und zählte in den Nach-'richten der europäischen Presse bereits nach Hunderttausenden. So kanies, daß erst am 5. August unter Führung des russischen Generals Ljene-witsch mit den inzwischen wieder vermehrten Kräften der entscheidendeVormarsch auf Peking angetreten wurde. Es gelang, die Stellung vonPei-tsang durch Umgehung zu gewinnen und die Chinesen unter kleinenGefechten auf die Hauptstadt zurückzuwerfen.

Dort hatte sich die Lage der Gesandtschaften aufs äußerste gefährlichgestaltet. Seit dem 7. Juni machten die regulären chinesischen Truppenmit den Boxern bei den Angriffen gemeinsame Sache. Der chinesischePrinz Tuan stellte sich an die Spitze der Bewegung. Am 23. Juni warendie Europäer, die bei der Schwäche der Besatzung einen Posten nach demandern hatten aufgeben müssen, schon auf die Gebäude der Deutschen,Britischen und Amerikanischen Gesandtschaft beschränkt, mußten aber, umnicht dem wilden, fanatischen Hauptstadtpöbel zum Opfer zu fallen, nochweiter standhaft in langem, verzweifeltem Ringen aushalten. Am 12. Julikamen die Chinesen der Deutschen Gesandtschaft auf 50 Meter nahe. DieLage der Eingeschlossenen erinnert an die der Nibelungen in Etzels Königs-palast. Es blieb ihnen keine Wahl, als standhaftes Ausharren bis zumäußersten oder ein schmählicher Untergang. Ein letzter heftiger Angriffvon zwei Seiten her wurde glücklich durch die Umsicht und Tapferkeit desGrafen v. Soden unter starken Verlusten für die Chinesen abgewehrt. Siebeschränkten sich danach bis zum 8. August auf Beschießung der Gebäudeaus sicherer Ferne. Dann begannen neue Nahkämpfe, bis die heißersehnteRettung erfolgte. Am 14. August nachmittags erschienen die Engländerund am 15. die Japaner in der Stadt. In den Straßen wurde nochbis zum 24. weiter gekämpft, dann erst trat Ruhe ein. Der KaiserlicheHof war inzwischen in die Provinz Schansi geflüchtet. Die Befreiung derGesandtschaften, über deren tragischen Untergang schon eine anscheinendsichere Nachricht bis nach Europa gedrungen war, erregte den Jubel derzivilisierten Welt. Die braven Schutzwachen hatten ihren Triumph miteinem Verlust von 70 Toten und 145 Verwundeten, also von mehr alsder Hälfte ihrer ursprünglichen Stärke, bezahlt.

Zu bedeutenden Kämpfen kam es nicht mehr. Die deutsche Abteilungdes rund 11000 Mann starken Expeditionskorps von Tien-tsin säubertedie Umgebung der Hauptstadt und hatte dabei am 25. September und1. Oktober noch Gefechte am kaiserlichen Jagdpark und an der Straßenach Pao-ting-fu. Weiterreichende Unternehmungen verboten sich einst-