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Soziale Tagesfragen / von Wilhelm Oechelhaeuser
Entstehung
Seite
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Gesetz und Freiwilligkeit.

Die Lösung fast aller sozialen Einzelfragen kann nur in demorganischen Zusammenwirken von gesetzlichen Bestimmungen undVerwaltungsmaßregeln, mit humanitärer Freiwilligkeit gefundenwerden. Vollständig vergeblich wäre es indeß, allgemein gültigeRegeln für dieses Zusammenwirken auffinden zu wollen, oder ihmbestimmte Grenzen zu ziehen. Stets aber muß die Freiwilligkeit alsPionier voranschreiten und mit dem Schatz ihrer angesammelten Er-fahrungen dem Gesetz, d. h. also dem Uebergang von der Freiwillig-keit zur Verpflichtung, den Weg ebnen und die Richtungslinien vor-zeichnen. Alls diesem Wege sind die Kranken- und Unfallversichernngs-gesetze entstanden, und wenn bei ersterem Gesetz die Freiwilligkeitviel weiter vorgearbeitet hatte, wie bei dem letzteren, so spiegelt sichdies auch in dem vollkommeneren Organismus des ersteren wieder.Das Gesetz darf sich nicht vorschnell in unbekannte Gebiete begeben,muß stets möglichst festen Boden uuter deu Füßen haben. Nichtphilantropische Schwärmerei, sondern nur Erfahrung sollen ihm dieWege zeigen.

Wir wollen nun hier nicht in die Doktorsrage eintreten, wieweit überhaupt das Gesetz sich in die Verhältnisse zwischen Arbeit-geber und Arbeiter einmischen solle und dürfe, und nach welchenPrinzipien das Gebiet zwischen Gesetz und humanitärer Freiwilligkeitabzugrenzen sei. Wir wissen, daß viele ängstliche Gemüther unddoktrinäre Politiker den Staatsaufgaben für alle Zeiten bestimmteGrenzen ziehen möchten, daß sie insbesondere mit Scheu und Un-behagen ans das Vordringen der humanitäreu Gesetzgebung in dasGebiet der freien Selbstbestimmung des Einzelnen blicken, daß sievon dieser Gesetzgebung einen in den Folgen unabsehbaren Einbruch,sei es in ihre Interessensphären, sei es in ihr doktrinäres Staats-ideal fürchten. Wir unsererseits theilen diese Befürchtungen nicht.ES ist nicht abzusehen, weßhalb die Summe der Intelligenz und dasGewicht der Interessen, welche heute der Gesetzgebung die Wegezeigen, nicht auch in der Zukunft ihren Einfluß behalten und Mensch-lichkeit und Interessen ebensogut in Einklang bringen sollten, wie